“Und auf einmal diese Stille” von Garrett M. Graff

„So gut wie jed­er über einem gewis­sen Alter weiß noch ganz genau, wo er oder sie am 11. Sep­tem­ber 2001 gewe­sen ist. Was wie ein ganz gewöhn­lich­er Tag begann, wurde zur tödlich­sten Ter­ro­rat­tacke der Welt­geschichte und zum schlimm­sten Angriff auf die Vere­inigten Staat­en seit Pearl Habor.“

Seite 11

Dieses Sach­buch ist anders. Es ist nicht ein­fach eine Chronolo­gie jen­er unfass­baren Ereignisse, die sich am 11. Sep­tem­ber 2001 am World Trade Cen­ter und im US-amerikanis­chen Vertei­di­gungsmin­is­teri­um, dem Pen­ta­gon, zutru­gen. Vielmehr nimmt der amerikanis­che Jour­nal­ist Gar­ret M. Graff uns mit an den Ort des Geschehens; er wirft uns mit­ten rein.

Mehr als 5000 Tonauf­nah­men, Videos, Zeitzeu­gen­berichte und Doku­men­ta­tio­nen wertete der Autor aus, um die Leserin­nen und Leser spüren zu lassen, wie die Amerikan­er die Ter­ro­ran­schläge vom 11. Sep­tem­ber 2001 erlebt haben und wie es ihnen in den Tagen, Wochen, Monat­en und Jahren danach ergan­gen ist. Dem Autor ist es ein beson­deres Anliegen, dass die Men­schen die Geschichte nicht ein­fach nur pas­siv rezip­ieren, son­dern sie durch­leben und Teil der Katas­tro­phe sind:

„Denn um wirk­lich begreifen zu kön­nen, was […] geschehen ist, müssen wir zuallererst ein Ver­ständ­nis dafür entwick­eln, was es hieß, diese drama­tis­chen Ereignisse zu durch­leben, wie es sich anfühlte, Teil dieser Tragödie zu sein, die ihren Lauf nahm unter dem kristal­lk­laren, blauen Him­mel des 11. Sep­tem­ber 2001.“ 

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Daher ist der Auf­bau dieses Buch­es ein Beson­der­er. Die Geschichte wird von zahlre­ichen Stim­men erzählt. Wir find­en in den chro­nol­o­gisch aufge­baut­en und nach The­men­schw­er­punk­ten bzw. Örtlichkeit­en geord­neten Kapiteln fast auss­chließlich kurze Absätze mit wörtlichen Zitat­en. An der einen oder anderen Stelle ord­net der Autor diese Zitate mit einem kurzen Absatz in einen größeren Kon­text ein oder erläutert Hin­ter­gründe, die für das Ver­ständ­nis wichtig sind. Jedes Zitat begin­nt mit ein­er kleinen Vorstel­lung des „Sprech­ers“ bzw. der „Sprecherin“. Wir erfahren den Namen, den Beruf und den Aufen­thalt­sort der Per­son am Tag der Katastrophe.

Die jew­eili­gen Zitate sind aus­ge­sprochen sorgfältig aus­ge­sucht und fügen sich zu einem har­monis­chen Ganzen zusam­men. Teil­weise sind sie von ein­er regel­recht poet­is­chen Sprache, die mich wieder und wieder lehrte, dass sach­liche Nüchtern­heit und wort­ge­waltige Emo­tion­al­ität sich keineswegs auss­chließen. Man hat den Ein­druck, dass ein Chor guter Fre­unde einem erzählt, wie es wirk­lich gewe­sen ist; dass einem die New York­er Feuer­wehrmän­ner, die Polizistin­nen und Polizis­ten, die über­leben­den Büroangestell­ten der „Zwill­ingstürme“, die Müt­ter und Väter, die Söhne und Töchter New Yorks, die ver­störten Jour­nal­istin­nen und Jour­nal­is­ten, die mil­itärische Führungsriege des Pen­ta­gon, das Sicher­heitsper­son­al der Flughäfen – ja, dass einem die Zeu­gen jenes Tages erzählen, wie es war, dabei gewe­sen zu sein.

Dadurch ist es dem Autor gelun­gen, seinen eige­nen Ansprüchen an dieses Werk gerecht zu wer­den und ein reales Erleben des 11. Sep­tem­ber zu ermöglichen. Dies bedeutet aber auch, dass dieses Sach­buch schreck­lich ist in all seinen Details. Gar­ret M. Graff beschönigt und zen­siert hier nichts, er lässt die Men­schen offen und ehrlich sprechen und kon­fron­tiert uns mit dem Tod im World Trade Cen­ter in all seinen grausamen Facetten. Dieses Buch ist keine nette Feierabend‑, Stran­durlaubs- und Som­mer­lek­türe. Es ist ganz har­ter Tobak.

Faz­it

Ich empfehle diesen großar­ti­gen Titel all jenen, die „dabei“ gewe­sen sein wollen; die das Kerosin der ein­schla­gen­den Flugzeuge riechen, die Hitze der glühen­den Stahlträger spüren, die Schreie verzweifelt sprin­gen­der Men­schen hören, den Staub atmen und in den Trüm­mern nach Über­leben­den wühlen möcht­en – und können.


Und auf ein­mal diese Stille — Die Oral His­to­ry des 11. September

Gar­rett M. Graff | über­set­zt von Philipp Albers und Hannes Meyer

Suhrkamp Ver­lag | 537 Seit­en | Klappenbroschur

ISBN 978–3‑518–47090‑9 | 20 Euro

Katharina

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