“Das wirkliche Leben” von Adeline Dieudonné

„Ich hat­te keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelun­ge­nes Leben gab und was das genau bein­hal­tete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeit­en und ohne Liebe ein vergeudetes Leben war.“ 

Seite 187

Dies ist die Geschichte eines Mäd­chens. Und die seines Brud­ers. Es ist aber auch die Geschichte ein­er dys­funk­tionalen Familie.

In diesem Roman treten wir ein in eine schein­bar ganz nor­male Rei­hen­hauswirk­lichkeit: Vater, Mut­ter, zwei Kinder, ein paar Haustiere und ein hüb­sch­er Garten. Die Sied­lung ist zwar ein wenig herun­tergekom­men, doch der Vater hat Arbeit, das Mäd­chen gute Schul­noten und sein klein­er Brud­er Gilles ein „magis­ches Lachen“ (s. 18). Doch bere­its nach weni­gen Seit­en bröck­elt die Fas­sade und es tun sich Gräben unvorstell­bar­er Gewalt auf. Der Vater ist der Inbe­griff eines unaufhalt­samen Haustyran­nen, der eine Spur der Ver­wüs­tung durch die Fam­i­lie zieht und nicht nur auf seinen zahlre­ichen Großwild­jag­den in einen regel­recht­en Blu­trausch ver­fällt. In dieser Atmo­sphäre der Gewalt ist die Angst ein omnipräsen­ter Begleit­er der Kinder. Ihr freier Fall hinein ins Trau­ma nimmt jedoch erst dann so richtig Fahrt auf, als sich in der Sied­lung vor ihren Augen unvorherge­se­hen ein großes Unglück ereignet.

Dieser Roman ist heftig. Har­ter Tobak kön­nte man sagen. Wie das eben so ist, im „wirk­lichen Leben“.

Der Autorin ist auf knapp 240 Seit­en voll bild­sprach­lich­er Wort­ge­walt eine atmo­sphärisch dichte Erzäh­lung gelun­gen, die die Lesenden ein­mal kräftig durch­schüt­telt und mal völ­lig ver­stört, mal sehr nach­den­klich, alles in allem jedoch vor allem unendlich bere­ichert zurück­lässt. Sel­ten habe ich eine solche Kom­plex­ität auf so weni­gen Seit­en erlebt. Dieudon­nés Roman ist vielschichtig, er ken­nt keine Tabus und kon­fron­tiert mit gesellschaftlichen Wahrheit­en, die wir alle nur allzu gerne aus­blenden. Ich nehme aus dieser Geschichte sehr viel mit und kann schon jet­zt abse­hen, dass dieses eines jen­er weni­gen Büch­er ist, aus denen man anders her­aus­ge­ht, als man hineinge­gan­gen ist.

Beson­ders ins Schwär­men ger­ate ich jedoch angesichts der explo­siv­en Sprachge­walt der Autorin. Kein Wort zu viel, keines ohne tiefer­ge­hende Bedeu­tung, kein Detail, das nicht auf der Metaebene zu betra­cht­en ist. Es sind unzäh­lige Zeilen, die ich wieder und wieder lesen musste, die sich erst beim zweit­en Hin­se­hen erschließen und die mir schienen wie Sätze für die Ewigkeit.

Faz­it

Alles in allem ein abso­lut großar­tiges Buch, das ich uneingeschränkt an all jene weit­erempfehle, die sich für die Facetten häus­lich­er Gewalt inter­essieren. Gle­ich­wohl muss ich einen einzi­gen kleinen Kri­tikpunkt an den Ver­lag richt­en: „Das wirk­liche Leben“ ist ein Buch, dem man gewach­sen sein muss. Der Klap­pen­text lässt die Heftigkeit der (ins­beson­dere psy­chis­chen) Gewalt gegen die Opfer nicht hin­re­ichend erken­nen. Eine Trig­ger­war­nung für Trau­ma-Patien­ten wäre hier sich­er angebracht.


Das wirk­liche Leben

Ade­line Dieudon­né | über­set­zt von Sina de Malafoss

dtv Ver­lag | 240 Seit­en | Hardcover

ISBN 978–3‑423–28213‑0 | 18 Euro

 

Katharina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Zurück nach oben